Samstag, 25. Januar 2014

"Sie sind ja gar nicht behindert! Sie sind selbstbewusst. Und auch noch in der Politik."

Diese Woche führte mich zum Neujahrsempfang des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins - der ältesten Selbsthilfeorganisation für blinde Menschen. Politiker und Politikerinnen aus dem Berliner Abgeordnetenhaus und aus den Fraktionen auf Bezirksebene, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen auf Bezirks- und Landesebene sind der Einladung gefolgt.

akustische Ampel
Zur blindengerechten Barrierefreiheit in der Stadt gehören akustische Signalgeber, d. h. Ampeln, die bei Grün ein akustisches Signal geben, damit sich auch blinde Menschen im Straßenverkehr orientieren können. Diese Ausstattung wird immer noch als Zusatzausstattung gewertet und so kommt es, dass in den letzten 8 Jahren lediglich 90 Ampeln in Berlin blindengerecht umgerüstet wurden.

D. h. wenn die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in diesem Tempo weiter umrüstet, wird Berlin in nur 80 Jahren barrierefreie Lichtsignalanlagen haben. Das ist natürlich viel zu spät und  einer Stadt, der im letzten Jahr der European Access City Award verliehen wurde, unwürdig.

Im Anschluss unterhielt ich mich mit einem Schulleiter eines Förderzentrums "Sehen" - wie die Förderschulen für blinde und sehbehinderte Kinder jetzt politisch korrekt heißen. Nebenbei bemerkt: kein blindes Kind lernt in einem Förderzentrum sehen. Aber das ist ein anderes Thema.

Viel mehr hat mich an diesem Abend ein Satz des Schulleiters mir gegenüber irritiert: "Sie sind ja gar nicht behindert!"

Doch von Anfang an: Ausgehend von der Frage: Werden bei der schulischen Inklusion behinderter Kinder wirklich alle berücksichtigt?, diskutierten wir über die unzureichende  Berücksichtigung von Kindern mit Mehrfachbehinderungen. im Rahmen der Inklusion. Diese blieben, so der Schulleiter, doch weiter in den Förderzentren. Dass die schulische Inklusion nur halbherzig angegangen wird, wenn nur ein Teil der behinderten Kinder eingeschlossen wird und ein anderer Teil doch wieder draußen bleiben müssen, das sehe ich auch auch so. Und darüber habe ich auch schon geschrieben.

Wie diesen unterschiedlichen Behinderungen und Förderbedarfen begegnet werden kann, darüber hatten wir jedoch unterschiedliche Auffassungen:


  • Wir brauchen weder eine Schließung der Förderschulen noch ihren Erhalt in der jetzigen Form, sondern deren Öffnung, damit sowohl nicht behinderte Kinder als auch nicht sonderpädagogisch ausgebildete Kolleginnen und Kollegen vom Know-How und der vorhandenen technischen Ausstattung profitieren und dazulernen können. Ein Ansatz, der bisher viel zu wenig gedacht wird, obwohl es dazu schon gute Praxisbeispiele gibt.
  • Den italienischen Weg der schulischen Inklusion zu kritisieren mit dem Argument, dass die anschließende berufliche Inklusion nicht funktionieren würde, halte ich für falsch.
Im Gegensatz zum Schulleiter bin ich nicht der Meinung, dass wir ein gut funktionierendes System der Inklusion am Arbeitsmarkt haben - aus folgenden Gründen:

  • Auch in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) findet Diskriminierung statt, denn der Gesetzgeber fordert, dass die Beschäftigten ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit erbringen müssen. Wer das nicht erbringen kann, dem bleibt der  Zutritt verwehrt.
  • Eine Tätigkeit in einer WfbM versetzt den Beschäftigten nicht in die Lage, für sich selbst sorgen zu können und ist deshalb auch keine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben.
  • Und es gibt einen Automatismus, der von der Förderschule direkt in die WfbM führt, in der Förderschule gehört ein Praktikum in einer WfbM zum Standard, wie dieser Forschungsbericht der Universität Gießen zeigt.
An beidem, der schulischen und beruflichen Inklusion, haben wir noch viel zu arbeiten, damit wir von einer echten Inklusion sprechen können.

Und dazu müssen wir Strukturen (die der Macht, die physischen und die des Denkens) verändern. Inklusion ist unteilbar und das Recht auf Teilhabe gilt für alle. Ich empfehle hier www.inklusionsfakten.de Das ist gerade für Leiter von Sondereinrichtungen schwer zu denken, weil sie ja an Segregation verdienen. Und so kam es dann auch zum oben erwähnten Satz: 

"Auf Sie trifft das nicht zu - Sie sind ja gar nicht behindert. Sie sind selbstbewusst. Und auch noch in der Politik." 

Das war wahrscheinlich zuviel ;)

Ich finde, wir behinderten Menschen sollten uns weder von außen einreden lassen, dass das Recht auf Teilhabe nur bestimmten behinderten Menschen zustünde, noch unter uns selbst solche Unterscheidungen über zuviel und zuwenig Behinderung vornehmen. (Mal abgesehen davon, dass ich es anmaßend finde, über Beeinträchtigungen anderer zu urteilen, ohne jemanden zu kennen.)

Selbstbewusst mit Behinderung in der Politik - für mich ist das kein Widerspruch, das bin ich!

Fröhlichen Samstag wünsche ich!


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